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Ein Gespräch mit Ex-Boxweltmeisterin Regina Halmich über Kinderarmut in Deutschland

„Hinschauen, nicht wegschauen!“

Regina Halmich, gelernte Rechtsanwaltsgehilfin, wurde als Amateurboxerin dreimal Deutsche Meisterin und auch Europameisterin. Nach ihrem Wechsel in den Profiboxsport bestritt sie 56 Kämpfe, davon allein 48 um eine Weltmeisterschaft. Von 1994 bis 2007 war sie zwölf Jahre lang ungeschlagene Box-Weltmeisterin. Seit 2014 engagiert sie sich ehrenamtlich unter anderem beim Deutschen Kinderhilfswerk im Kampf gegen Kinderarmut.

G.I.B.: Frau Halmich, Sie unterstützen das Deutsche Kinderhilfswerk, „um Kinderinteressen in den gesellschaftlichen Fokus zu rücken“. Was genau hat Sie dazu veranlasst, sich hier als „Botschafterin“ zu engagieren?
Regina Halmich: Nach meiner Karriere war für mich klar, dass ich mich im sozialen Bereich engagieren möchte. Da gibt es verschiedene Themen, die mir sehr am Herzen liegen, und da das Deutsche Kinderhilfswerk eine in meinen Augen sehr wichtige und gute Arbeit leistet, habe ich mich entschieden, dort als ehrenamtliche Botschafterin tätig zu sein. Ich finde es schlimm, dass es in einem reichen Land wie Deutschland noch Armut gibt.

Ich habe viele Geschichten von Kindern aus armen Familien gehört. Sie erzählen von ihrem schwierigen Alltag, der von Verzicht geprägt ist. Sie erzählen, dass meist kein Geld da ist für eine warme Mahlzeit am Tag oder um ins Schwimmbad zu gehen, dass sie in der Schule gemobbt werden, weil sie abgetragene Kleidung anhaben, dass sie nicht zu Kindergeburtstagen gehen, weil ihnen das Geld für ein kleines Geschenk fehlt und dass sie selbst keine anderen Kinder zu sich nach Hause einladen, weil sie sich für die beengten Wohnverhältnisse oder die abgenutzten Möbel schämen. Das sind kleine Beispiele, die man endlos fortführen könnte und die in der Summe arme Kinder psychisch und mental extrem belasten. Das sind Missstände, auf die man aufmerksam machen muss, und da Kinder unsere Zukunft sind, wollte ich mich gerne für die armen unter ihnen engagieren.

G.I.B.: Welche Konsequenzen hat nach Ihren Erfahrungen das Aufwachsen in Armut für die Kinder?
Regina Halmich:
Armut bedeutet für die Kinder oft fehlende gesellschaftliche Teilhabe, Ausgrenzung und Isolation. Dass sie anders sind als der Durchschnitt, bekommen sie täglich zu spüren. Die Kinder sind oft nicht selbstsicher, viele sind häufig krank oder angeschlagen. Hinzu kommen manchmal Übergewicht und Fettleibigkeit, weil die Eltern, die meist selbst hilfebedürftig sind, nicht selbst kochen, sondern sich und ihre Familie über Billig-Fast-Food ernähren.

Das Aufwachsen von Kindern in Armut beeinträchtigt auch ihre schulischen und beruflichen Zukunfts­chancen. Das wird ganz deutlich im Bildungsbereich. Armut geht oft mit einem niedrigen Bildungsniveau einher und das hat Auswirkungen, denn je niedriger die Bildungsabschlüsse der Eltern sind, umso seltener wechseln deren Kinder auf ein Gymnasium. Das heißt, Kinder aus ärmeren Haushalten können viel seltener studieren oder haben häufiger nicht so gute Schulabschlüsse und deshalb Probleme, einen guten oder überhaupt einen Job zu finden. Wer einmal in einer prekären Lage ist, hat es schwer, da wieder herauszukommen. Das schaffen die Kinder meistens nicht alleine und die Eltern können sie oft auch nicht unterstützen, sodass sich die Armut mit allen ihren Konsequenzen an die nächste Generation vererbt.

G.I.B.: Sie engagieren sich schon seit mehreren Jahren im Kampf gegen Kinderarmut. Welche Erlebnisse haben Sie dabei als besonders eindringlich erfahren?
Regina Halmich:
Als Botschafterin für das Deutsche Kinderhilfswerk habe ich Kindern in Schulen vorgelesen, habe in Kitas gemeinsam mit den Kindern Waffeln gebacken und mit Smarties verziert oder war zu Weihnachten in einer Einrichtung der Jugendhilfe, in der die Kinder vom Weihnachtsmann ein von Sponsoren finanziertes Geschenk bekommen haben. Diese Kinder, die sonst nie ein Geschenk bekommen, waren für all diese Kleinigkeiten sowie dafür, dass man sich überhaupt mit ihnen beschäftigt hat, enorm dankbar. In all diesen Fällen habe ich glückliche Kinderaugen gesehen. Das waren ungeheuer emotionale Momente auch für mich, das waren Augenblicke, in denen ich wusste, dass ich meine freie Zeit ehrenamtlich gut angelegt habe.

G.I.B.: Welche Akteure sind vor allem gefordert im Kampf gegen Kinderarmut? Welche Erwartungen haben Sie oder welche Handlungsempfehlungen können Sie ihnen geben?
Regina Halmich:
Ich bin kein Profi in dem Metier und halte mich deshalb mit konkreten Handlungsempfehlungen zurück, aber klar ist, dass Politik und Wirtschaft gefordert sind. Das fängt an bei der Beschäftigungspolitik. Eltern müssen einfach in der Lage sein, über eine eigene Erwerbstätigkeit ihren Kindern eine ausreichende finanzielle Lebensgrundlage zu bieten. Wenn das nicht klappt, brauchen wir armutsfeste Regelsätze bei öffentlichen Transferleis­tungen, dafür müssen Bund, Länder und Gemeinden sorgen, und hier vor allem der Bund.

Es wird in so viele teils fragwürdige Projekte Geld investiert und wenn es um Bildungs- und Teilhabechancen von Kindern geht, ist plötzlich nicht mehr genug davon da? Wir müssen in Armut lebenden Eltern, Alleinerziehenden und ihren Kindern ermöglichen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Das ist auch wichtig, damit sie nicht resignieren. Mit der Unterstützung muss man früh anfangen, um den generationenübergreifenden Kreislauf von Armut zu durchbrechen und man muss langfristig denken, denn davon profitieren letztlich auch der Staat und die Gesellschaft, also wir alle. Denn wenn infolge dieser investierten Ressourcen die in Armut aufgewachsenen Kinder später als Erwachsene keine Hartz IV-Empfänger sind, erspart das der Gesellschaft zukünftig Kosten. Ich denke, die Familienförderung in Deutschland sollte in diesem Sinne von Grund auf reformiert werden, damit Armut gar nicht erst entstehen kann.

G.I.B.: Das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales von Nordrhein-Westfalen möchte die Kinder- und Jugendarmut in benachteiligten Quartieren wirksam bekämpfen, zum Beispiel mit dem Programm „Zusammen im Quartier – Kinder stärken – Zukunft sichern“. Dabei geht das Ministerium davon aus, dass eine fachübergreifende Zusammenarbeit in der Verwaltung, mit Trägern, Akteuren und Betroffenen unerlässlich ist. Aufgrund Ihrer Erfahrungen: Ist das der richtige Ansatz?
Regina Halmich:
Dass bei der Armutsbekämpfung auf kommunaler Ebene zum Beispiel Jugendamt, Gesundheitsamt, das Dezernat für Sport, freie Träger und weitere Akteure zusammenarbeiten, ist sicher richtig und unverzichtbar. Aber es muss gut koordiniert sein, damit alle Aktivitäten gut aufeinander abgestimmt sind. Grundsätzlich gefällt mir an dem Konzept, wie Sie es skizziert haben, dass es auf Quartiere zugeschnitten ist, denn Armut konzentriert sich meist in bestimmten Stadtteilen oder sogar Straßenzügen.

Deshalb müssen Angebote für arme Familien nicht „irgendwo“ in der Kommune zur Verfügung stehen, sondern dort, wo die armen Familien leben, also am besten in deren jeweiligem Wohnblock. Außerdem müsste die Unterstützung langfristig angelegt und umfassend sein, also von der Schwangerschaft über den Wechsel von der Grundschule zur weiterführenden Schule bis hin zum Berufseinstieg, damit kein Kind verloren geht. Doch nicht nur Staat und Wirtschaft sind gefordert, sondern auch die Gesellschaft. Jede und jeder Einzelne kann ehrenamtlich etwas tun. Wichtig ist, dass man hinschaut, mit Wegschauen macht man alles nur schlimmer.